Accipiter nisus
Es ist bereits früher Nachmittag und ich bin zuhause und putze die Wohnung. Plötzlich flattert vor der Fensterscheibe Weißes und Flaumiges. Wieder ein unbedachter Hausmitbewohner, der Abfall aus dem Fenster kippt? Ich schaue genau hin. Das sitzt er, kaum drei Meter entfernt, nur durch die Scheibe von mir getrennt: Accipiter nisus, der Sperber und kleine Vetter des Habichts. Genaugenommen ist es ein Sperberweibchen, das zeigt mir schon sein augenblickliches Tun. Es hockt auf einer Ringeltaube am Boden, die Taube zappelt und wehrt sich noch. Der Sperber muss fest zupacken und hat seine Klauen tief in die Beute geschlagen. Weshalb zeigt das Tun ein Sperberweibchen an? Für das deutlich kleinere Männchen wäre eine Taube als Beute einfach zu groß. Selbst das Weibchen ist kleiner und leichter als die Taube. Ich bin gebannt, gespannt, gefesselt. Solch eine Beobachtung! Ganz nahe und fast mit der Hand zu greifen! Noch zuckt die Taube. Das hindert den Sperber nicht daran, mit dem Rupfen und Kröpfen anzufangen. Er beginnt an der Brust, reißt Federn weg und verleibt sich die ersten Fleischstücke ein. Ich gehe vom Fenster zurück, möchte, dass der Sperber bleibt und mir das Geschehen nicht verloren geht. Nach einigen Minuten flattert er noch ein wenig hin zu meinem Fenster, die Taube dabei unerbittlich in den Klauen haltend. Das alles geschieht nun einen Meter vor meinen Augen. Kurios, erst gestern sah ich einen privat gedrehten Film, in dem ebenfalls ein Sperberweibchen eine Elster tötet. Auch hier wehrte sich die Beute heftig und sie kreischte erbärmlich. Das Weibchen hielt die Beute wie vor meinen Augen eisern fest, und machte sich – notgedrungen unbeholfen – zu Fuß in die Richtung eines Gartenteichs. Dann zog der Sperber die Elster ins Wasser und hielt, als hätte er das schon hundertmal gemacht, ihren Kopf unter Wasser. Das Kreischen der Elster erstarb und nach wenigen Minuten war sie tot. Nichts für zarte Gemüter. Doch, welch eine Leistung des Sperbers? Woher wusste er, dass die Beute bei untergetauchtem Kopf schnell sterben muss und ihm somit die Arbeit erleichtert ist? Hatte er bereits ähnliche Jagderfahrungen gesammelt? Konnte er, aus anderen Erlebnissen am Wasser hergeleitet - beim Trinken? - abstrahieren, dass ein längeres Untertauchensdes Kopfes einer Beute deren Tod herbeiführt? Das werden wir nicht erfahren. Aber Vögel sind klug und lernfähig, das bestätigt inzwischen auch die Wissenschaft.
Im Vortrag eines Neurobiologen, den ich vor einigen Jahren an der Uni Hamburg hörte, stellte dieser das kognitive Potenzial von Raben, Krähen, Elstern, aber auch Papageien, mit dem von Menschenaffen oder Elefanten auf eine Stufe. So zeigte er im Film eine Elster, die eine von dem Wissenschaftler ins Federkleid des Vogels gebundene Stoffschlaufe erst nach einem Blick in den Spiegel, zu entfernen versuchte. Das bedeutet, so der Vortragende plausibel schildernd – wissenschaftlich korrekt hatte er viele vergleichende Versuche mit unmarkierten Elstern und anderen Tieren gemacht - dass sich die Elster im Spiegel erkannte. Solche Selbstwahrnehmung von Tieren ist nicht selbstverständlich und erst bei Schimpansen, Orang-Utans, Delfinen, Elefanten und eben auch bei Elstern und anderen Rabenvögeln nachgewiesen. Die an sich nicht dummen Hunde erkennen sich im Spiegel nicht, das zeigt nicht nur die Forschung, sondern auch die Alltagserfahrung mit diesen Tieren. Der Neurobiologe sagte damals, dass lange Zeit den Vögeln solche intelligenten Leistungen nicht zugetraut wurden, da ihnen die Furchung der Schläfenlappen, wie bei vielen Säugetieren und am stärksten ausgeprägt bei Primaten und folgerichtig beim Homo sapiens, üblich, fehlt. Diese Furchung galt immer als Voraussetzung für hohe Intelligenz, doch, nun weiß man es, bei anderen Organismen geht es auch ohne. Wie ich finde, ist das ein weiterer Dämpfer für die Überlegenheitsanmaßung der Menschen. Schauen wir, was die Wissenschaft in 30 Jahren zu den Fähigkeiten anderer Tierarten sagt, z. B. jenen der Krokodile. Mit diesen sind die Vögel nahe verwandt, aus den Krokodilen entstanden die Dinosaurier und heute sagt die Biologie, dass die Vögel zu den Dinosauriern zählen. Klingt kurios, lässt sich allerdings mittels zahlreicher Funde glaubhaft darstellen.
„Mein“ Sperberweibchen bewegt sich, nachdem es einige Minuten ganz nahe vor meinem Fenster saß, mit der Taube doch einige Meter fort. Obgleich ich mich sehr vorsichtig verhielt, nahm es meine Aufmerksamkeit wahr. Zum Glück wählt es einen weiterhin nahen und vor allem für mich einsichtigen Rupfplatz auf, wenngleich ich jetzt das Fernglas zu Hilfe nehme. Die Taube muss inzwischen tot sein, das Weibchen frisst und frisst. Es scheint hungrig zu sein. Wie wach und durchdringend sein Blick ist! Das Tier hat die Flügel leicht angehoben und angewinkelt. Dieses Erscheinungsbild wird von alters her kühn genannt und es symbolisiert für uns Wildheit und Verwegenheit. Die Heraldik ist reich an Darstellungen von Greifvögeln. Hierfür stand in erster Linie der große und mächtige Steinadler Modell, doch auch der Habicht wird öfter widergegeben. Apropos, ich habe gleich im Bestimmungsbuch nachgeschaut. Sperberweibchen sind nicht immer ganz einfach vom Habichtmännchen zu unterscheiden. Bei beiden Arten sind die Männchen um rund ein Drittel kleiner als die Männchen, was mit sich bringt, dass das Weibchen des Sperbers fast die Größe eines männlichen Habichts erreicht. Es gibt aber sichere Unterscheidungen, zumindest dann, wenn der Vogel so nahe ist. Beim Sperber, sowohl Männchen wie Weibchen, ist der Unterlauf, der Tarsus deutlich schlanker als bei Habichten beiderlei Geschlechts. Das Federkleid gibt übrigens bei erwachsenen Vögeln für die Unterscheidung wenig Hilfe, wenigstens nicht zwischen Sperberweibchen und Habichtmännchen. Das Sperbermännchen hat hingegen eine rötlich gebänderte (gesperberte) Brust und ist außerdem so klein, dass es von vornherein nicht als Habicht durchgeht. Dessen Weibchen trägt zwar dieselben Gefiedermerkmale wie das Männchen und auch das Sperberweibchen, ist allerdings so groß, dass sich hier die Frage ob Sperber oder Habicht, ebenfalls erübrigt. Habichte haben allerdings im Jugendkleid keine quergestreifte Brust sondern eine Längsstreifung. Sperber hingegen tragen die Querstreifen bereits im Jugendkleid. Das Tier vor meinem Fenster hat noch ein recht dunkles Gefieder, ein Jugendmerkmal bei beiden Arten. Da die Bruststreifen quer verläuft, ist im Verein mit dem schlanken Tarsus die Bestimmung Sperberweibchen eindeutig. Mehr als eine halbe Stunde kröpft der Vogel in meiner nächsten Nähe. Da ich nebenher weiter putze, schaue ich nicht durchgehend zu ihm hin. Irgendwann sehe ich nur noch ein großes Federbüschel, der Sperber ist verschwunden. Die für ihn verwertbaren Teile der Taube hat er mitgenommen, vermutlich war die Beute nun leicht genug, um sie zu einem günstigeren Rupfplatz tragen zu können. Vor meinem Fenster hinterlässt Accipiter nisus nichts weiter als das erwähnte Federbüschel und einige Blutstropfen. In meiner Erinnerung wird diese Beobachtung aber lange nachhallen.
März 2019