Efeu
Vor der Fensterfront meiner kleinen Wohnung befindet sich eine kleine Gartenfläche von ca. 6 auf 5 Meter. Die meiste Zeit, die ich hierwohne, das sind jetzt bald 17 Jahre, überließ ich das Fleckchen völlig sich selber und Efeu, Brennnesseln, Brombeeren und Mahonien konnten sich nebst Feldahorn, Goldregen und zwei Wolligen Schneebällen kaum gehindert ausbreiten. Es liegt kaum drei Jahre zurück, dass mir der die meiste Zeit blütenarme Wildwuchs zu eintönig wurde. So begann ich das größte Stück des Gärtchens zu kultivieren, um eine Wildblumenwiese zum Blühen zu bringen. Ich entfernte die oberirdische Vegetation – außer den großen Bäumen und Sträuchern - und machte mich anfangs noch ein wenig unschlüssig daran, das Wurzelwerk zu lockern und ebenfalls zu entfernen. Was von Anfang an klar war, die Wurzeln zeigten sich hartnäckig, reichten zum Teil sehr tief und waren weit verzweigt. Den meisten Widerstand leistete der Efeu. Diese Kletterpflanze, Hedera helix, bildet, wenn sie auf Humus steht, kräftige Wurzeln aus und ein Gartenstück, das von ihm einmal durchwurzelt ist, lässt sich nur mit größter Mühe, wenn überhaupt, von ihm befreien. In den ersten beiden Jahren erwies sich das Aussäen von Wildblumen als erfolglos. Mein Garten kriegt zu wenig Sonne, er wird daher nur schwach aufgewärmt und der Boden trocknet nur langsam ab. Der schwere Lehmboden hält die Feuchtigkeit fest, und, das zeigten die Brennnesseln, er ist stickstoffgesättigt. Kein gutes Milieu für Wiesenblumen. Doch nun zum 20. Februar 2019: Ich hatte Samen von der Kuckucks-Lichtnelke (Lychnis flos-cuculi) im vergangenen Herbst besorgt. Diese rosa blühende Pflanze wächst auf feuchten und nährstoffreichen Wiesen. Daher kann ich mir vorstellen, dass die Lichtnelke sich auch bei mir heimisch fühlt. Zunächst möchte ich aber den Boden umgraben, was, so meine Überlegung, die Samenreifung erleichtert. Ich greife den Spaten und lege los. Zu Anfang geht er leicht in den Boden, doch bald gerate ich an die Efeuwurzeln und von nun an wird es mühsam. Die Tätigkeit des Umgrabens – in meiner süddeutschen Heimat auch Schoren genannt – ist mir vertraut. Ich bin es, bei unterschiedlichen Bodenarten, gewohnt, verhältnismäßig rasch voran zu kommen. Doch hier, angesichts des Efeus, wird das schwer. Bei fast jedem Spatenstich stoße ich auf Wurzelgeflecht, und so zäh und elastisch wie es ist, lässt es sich kaum durchtrennen. Nun kann ich in solchen Momenten großen Ehrgeiz entfalten. Nach knapp zwei Stunden bin ich mit dem umgraben fertig. Die umgegrabene Fläche umfasst gut 2/3 des Gärtchens. Wo das Relief am hinteren Rand ansteigt, bleibt alles unverändert, da mir sonst nach jedem Regen die Erde auf die Terrasse geschwemmt würde. Außerdem müsste ich dann auch die Wurzeln der Bäume entfernen, doch das würde ich, selbst wenn ich es wollte, nicht ohne Hilfe schaffen. Aber dennoch, ich habe lange für das kleine Stück gebraucht. Normalerweise wäre ich mit dieser Fläche in einer halben Stunde fertig. Nicht so angesichts des Efeus.
Und nun komme ich zu des „Pudels Kern“ meiner Geschichte. Beim Entfernen der hartnäckigen Wurzeln erwische ich mich beim Fluchen über deren Zähigkeit. Aber ebenso bewundere ich die Beharrlichkeit, mit der sich die Wurzeln und auch die oberflächlichen Teile des Efeus und anderer Sträucher zu behaupten wissen. Vegetieren ist das vom Substantiv Vegetation abgeleitete Verb, und bedeutet „ unbewusst vor sich hin leben“. Sehr oft wird vegetieren abwertend benutzt, so der Satz „Jemand vegetiert vor sich hin“. Ich will Pflanzen kein Bewusstsein zusprechen, doch ihre Form von vegetieren, verlangt höchsten Respekt. Mit welcher Ausdauer, mit welchen Anpassungen und in welchen vielfältigen Variationen sie Lebensräume immer wieder neu besiedeln, beleben, verändern, prägen, das ist etwas Wunderbares. Allein, dass sie zur Aufnahme von Nährsalzen, Spurenelementen und Wasser und um überhaupt einen Platz zu besetzen, Wurzeln ausbilden, die mindestens so groß wie die oberirdischen Pflanzenteile sind, verleitet zum Staunen. Erst die Pflanzen bauen mit der hochkomplexen Fotosynthese so ausreichend Biomasse auf, dass Tiere und auch Menschen eine Nahrungsquelle haben. Ohne den bei der Fotosynthese frei werdenden Sauerstoff könnten weder Tier noch Mensch leben.
Der Efeu ist ein besonders ausdauernder Besiedler von einigermaßen feuchten Lebensräumen, wo eine gut ausgebildete Humusschicht existiert und hochragende Strukturen aus Bäumen, Felsen oder Mauern vorhanden sind. Der Efeu schmarotzt nicht bei den Bäumen, auf denen er wächst, doch kann sein Blattwerk, wenn es groß genug ist, mit dem Baum oder besser mit dessen Blättern in Konkurrenz um das Sonnenlicht treten. Außerdem kommt es vor, dass Bäume unter besonders mächtigem Efeubewuchs zusammenbrechen. Nach dem Umstürzen des Trägerbaums kann der Efeu selbst zum Baum heranwachsen (nach H. Kutzelnigg, R. Düll; Botanisch-ökologisches Exkursionstaschenbuch). Wie erfolgreich sich der Efeu auf dem humosen Erdboden behaupten kann, habe ich geschildert. Also, ein Hans Dampf in allen Gassen und, wenn nicht allen, dann zumindest sehr vielen Lebenslagen gewachsen. Genauso wie Brennnessel, Brombeere, Löwenzahn, Ackerdistel, Schachtelhalm und so viele mehr. Es scheint mir manchmal, viele Hobby- und berufliche Gärtner und Landwirte, angeregt nicht selten von den Einflüsterern aus der Agrarchemie, wollen eine Art Ausrottungsfeldzug gegen all diese Pflanzen führen. Was sie dabei vergessen: diese sogenannten Unkräuter behaupten sich, weil sie eine hohe Anpassungsfähigkeit besitzen. Oft genug schafft gerade die Art und Weise, wie Menschen die Böden bearbeiten und das Land bewirtschaften, die besten Voraussetzungen für das „Unkraut“. So profitieren Brennnessel, Efeu, Schachtelalm und Brombeere allesamt von den Stickstoffmengen, die durch Gülle- und Kunstdüngerausbringung und auch als Resultate von Verbrennungsprozessen aus Schornsteinen und Auspuffen, auf Wiesen und Felder, Wälder und Gärten gelangen. „Unkraut vergeht nicht“ ist ein geläufiges Sprichwort. Angesichts des Rückgangs vieler Ackerwildkräuter und Wiesenblumen trifft das nicht in jedem Fall zu. Doch es gehört keine Prophetie dazu, um festzustellen, dass die meisten der vielmals lästigen „Unkräuter“ den Homo sapiens überdauern werden.
Wir tun also gut daran, auch den unliebsamen Pflanzen mit Respekt zu begegnen. Einmal, weil uns nie mehr gelingen wird, als sie vorübergehend zu bekämpfen und zu verdrängen. Zum anderen, weil jede Pflanze mit ihrer Vielzahl an Lebensäußerungen etwas ganz Wunderbares ist. Und zum Dritten, wo wir dem, was so wild kreucht seinen Platz lassen, ersparen wir uns nicht nur Schweiß und Mühe, sondern geben auch der natürlichen Vielfalt ihren Raum.
Ein Nachtrag: Efeu ist in allen Teilen giftig, besonders sind das die Beeren. Wie bei den meisten Giftpflanzen schmecken sie aber so bitter, dass niemand auf die Idee kommen wird, mehrere davon aufzuessen. Der Efeu blüht im Herbst, er trägt unscheinbare weiße Blüten, die viel Nektar liefern. Das gibt ihm um diese Zeit nicht nur einen süßlichen Geruch, sondern macht ihn auch im Jahreslauf zu einer der letzten Futterquellen für blütenbesuchende Insekten.
Ich habe viel von dem feinen Wurzelwerk aus dem Boden gezogen, die Erde abgeschüttelt und die Wurzeln zu einem Haufen zusammengelegt. Nachdem ich zum ersten Mal den Garten umgegraben und die Wurzeln zur Seite gelegt hatte, fiel mir bald auf, dass zahlreiche Vögel nacheinander mein Gärtchen besuchten. Zuerst dachte ich, sie suchten Brotkörner, die ich nach den Mahlzeiten oft dort ausstreue oder sie fänden im umgegrabenen Boden nun einfacher Würmer und Insektenlarven. Mitnichten! Sie holten sich die feinen Wurzeln für den Nestbau. So kamen Gimpel, Grün- und Buchfink, Amsel und Singdrossel, ab und zu Blau- und Kohlmeise, aber auch Eichelhäher und Elster. Wie wir Menschen waren die Vögel sowohl gegenüber Artgenossen – ausgenommen dem eigenen Weibchen oder Männchen – wie anderen Arten, wenig tolerant und freigiebig. Obgleich die Wurzeln für viele Nester gereicht hätten, schaute jeder Vogel darauf, dass kein anderer sich ihrer bemächtigte. Wenn der Eichelhäher herankam, mussten die Kleineren alle weichen und er selbst flog auf, als sich die Elster niederließ. Nun bin ich gespannt, ob mit Beginn des Nestbaus in den nächsten Tagen und Wochen wieder so viele Vögel, putzig anzuschauen, nach den Wurzeln picken. Ebenso warte ich darauf, dass im Mai die Kuckucks-Lichtnelke aufblüht.
Februar 2019