Mitsommernacht
Es ist der 12. Juni 2021 und damit sind es noch neun Tage bis zur Mitsommernacht und dem längsten Tag des Jahres. Nun bleibt es bis weit in die Nachtstunden hinein hell und nur für wenige Stunden dominiert die Dunkelheit das Geschehen.
Ich war heute schon deutlich vor dem Sonnenaufgang - er ist um 4:52 - auf den Beinen, um das letzte Mal in dieser Saison die Brutvögel zu erfassen. Unerwartet musste ich mich mit kühlen Temperaturen und grauem Himmel herumschlagen, die Vögel hielten sich angesichts dieses Wetters zumeist vornehm in der Deckung. Doch zum Abend hin scheint die Sonne und ich möchte die Stunden bis zur Dämmerung für einen Rundgang nutzen. Schon jetzt werden mit der sich neigenden Sonne die Farben intensiver, das nun im schrägeren Winkel einfallende Licht lässt die Konturen schärfer hervortreten und es dauert nicht lange, bis ein goldenes Gelb Wald, Feld und Flur umfängt. Um mich herum ist es menschenleer und der Verkehrslärm klingt ab. Einige Vogelarten singen im Juni noch ziemlich intensiv, so höre ich unter anderem Amsel und Singdrossel, Garten- und Mönchsgrasmücke, den Sumpfrohrsänger und auch den unermüdlichen Kuckuck. Doch auch das Vogelkonzert wird zur Dämmerungszeit hin dünner. Nun trauen sich die scheuen Rothirsche und Wildschweine auf die offenen Wiesenflächen. Erst zögernd zeigt sich eine Hirschkuh mit einem Kalb. Am Waldrand sind weitere Tiere zu sehen, und nach und nach schließen noch zwei Kühe mit je einem Kalb, ein Schmaltier und ein Schmalhirsch, der sein schwaches Erstgeweih schiebt. Die jungen Tiere, also die Kälber und das Schmaltier, tollen lebenslustig umher und narren sich mit Bocksprüngen. Doch erst wenn die zuerst erschienene Hirschkuh weitergeht, folgen die Anderen nach. Auch die Schwarzkittel sind mit Nachwuchs unterwegs, ich erkenne drei Bachen, zwischen deren Läufen Frischlinge umhertrotten. Wie viele es sind, kann ich wegen des hochstehenden Grases nicht sehen. Quorrend macht ein Waldschnepfenhahn auf sich aufmerksam, immer wieder streicht er in Abständen von wenigen Minuten über meinen Standplatz, einmal präsentiert er sich im baumwipfelhohen Vorbeiflug in bester Weise. Vom Teich hinter dem Erlenbruch sind die Wasserfrösche zu hören, auch der ein oder andere Laubfrosch mischt sich darunter.
Inzwischen ist die Sonne untergegangen, doch ein ausdauerndes Abendrot wird den Weg in die Nacht noch sehr lange ausleuchten. Über den Wiesen steigt die Feuchtigkeit auf[1] und beginnt die bodennahen Bereiche in Watte zu packen. Als einige Zeit später das feuerglühende Abendrot nur noch in einem schmalen Streifen am Horizont steht, tritt die schmale Sichel des ersten Mondviertels am westlichen Nachthimmel prägnant hervor. Auch er erhält einen feurigen Anstrich. Der Mond war schon kurz nach 6:00 aufgegangen, doch die Tageshelle ließ ihn nicht zur Geltung kommen. Erst jetzt, nachdem sich die Sonne zurückgezogen hat, zeigt er sich im magischen Licht. Überhaupt hat dieser Moment etwas Magisches. Da sind die Bodennebel, die umherwabern, das Abendrot darüber, der dunkler werdende Himmel, aus dem der Mond und einige Sterne keck hervorscheinen. Lange ist der Mond nicht mehr zu sehen, gegen Mitternacht verabschiedet er sich. Da die Sonne im Juni und in der ersten Hälfte des Juli im nördlichen Deutschland nicht ganz am Horizont verschwindet, wird in der Nacht aber dennoch keine vollständige Dunkelheit herrschen.
Nur drei Stunden später wecken mich Kuckuck, Waldschnepfe und Singdrossel aus dem Schlaf und so nutze ich die Gunst des Augenblicks und gehe dem heraufziehenden Tag entgegen. Wiesen und Felder liegen im hohen Morgentau, im Osten dräut das Morgenrot hervor. Es ist kühl und feucht. Bäume und Büsche lassen sich nur schemenhaft wahrnehmen und ich muss schon genau mit dem Fernglas hinschauen, um fünf größere braune Punkte, die im Feld stehen, als vier Damhirsche - auch sie schieben ihr neues Geweih - und einen Rehbock zu erkennen. Der tapfere Wachtelkönig ruft aus der feuchten Wiese unermüdlich sein eintöniges, dafür sehr markantes Crex-Crex. Das klingt ein wenig, als würde man mit den Fingern über einen Kamm fahren. Da ich einen oder auch mehrere Vögel schon vor Stunden hörte, gehe ich davon aus, dass sie die ganze Nacht gesungen haben.
Fast unwirklich schön liegt die jungfräuliche Morgenlandschaft vor mir und es ist so wundervoll still. Selbst die wachsamen Damhirsche bleiben noch lange zur Äsung stehen, obgleich sie mich wahrgenommen haben müssen. Wie sich das Morgenrot verstärkt, werden die Tautropfen auf Gräsern, Zweigen und Blättern zu millionenfachen Blinkzeichen und wie auf einer Perlenkette gereiht, machen sie die ganze Filigranität und Kunstfertigkeit der dazwischen überall eingewebten Spinnennetze bewusst. Um diese kleinen und größeren Strukturen schwirrt die feuchte Luft und plötzlich bekomme ich beim Blick in den Tau und gegen das Morgenlicht den Eindruck, dass kleinste Teilchen vor meinen Augen in ständig neuen Schwärmen von rechts nach links fliegen. Erst meine ich gar, es handelt sich um Mückenschwärme. Da aber das ganze Phänomen nach wenigen Metern Sichtweite jedesmal verschwindet, ich zudem kein Summen höre und die Bewegung viel gleichförmiger abläuft, als dies bei Mücken der Fall wäre, kann das nicht sein. Was erlebe ich gerade?! Ist das eine Illusion, spielen mir also Augen und Gehirn einen Streich. Natürlich ist die gesamte Materie fortwährend in Bewegung, doch können wir niemals die Atom- oder Molekularbewegungen mit bloßem Auge erkennen. Kann es aber sein, dass mit den Bewegungen der kleinsten Materieteilchen flüchtige gröbere Strukturen wie der Wasserdampf in einer Weise verwirbelt werden, die für das bloße Auge erkennbar ist? Meine Ratio plädiert dafür, an eine Illusion zu denken. Doch das Ganze ist geheimnisvoll und lädt zu vielen Fragen ein. An Stellen, wo die inzwischen aufgegangene Sonne die Morgennebel bereits aufgelöst hat, sehe ich die Bewegung übrigens nicht. Wo zuvor noch ganze Tauschlieren alles bodennah Stehende einhüllten, leuchten nun unzählig viele einzelne Wassertropfen und wenn sie nicht verdunsten, sinken sie zu Boden und können dann von den Wurzeln der Pflanzen aufgenommen werden.
Noch gehört diese stille Morgenstunde den Rehen und Hasen, den Lerchen, Goldammern und Grasmücken. Trotz der Kühle wagen sich bereits Tagfalter und Libellen aus ihren nächtlichen Rückzugsorten. Ich ziehe mich hingegen zurück, möchte noch ein wenig schlafen. Die Nacht war kurz, dafür aber wunderschön.
Begriffserklärungen:
Schmaltier: eine Rehricke oder eine Hirschkuh, die sich im zweiten Lebensjahr befindet.
Schmalhirsch: ein Hirsch im zweiten Lebensjahr.
Geweih schieben: das neue Geweih entwickelt sich, wächst heran.
Quorren: der dumpfe Ruf der Waldschnepfe, den sie beim Balzflug, jägersprachlich Schnepfenstrich genannt, immer wieder hören lässt.
[1] Eigentlich ist das die Feuchtigkeit, die gasförmig in den höheren Luftschichten war und mit den sich abends abkühlenden Temperaturen im dichteren und wässrigen Aggregatszustand zu Boden sinkt. Beim Ansehen glaubt man allerdings, der Bodennebel oder der Bodentau würde emporsteigen. Am Kühlsten ist es übrigens fast immer zur Zeit des Sonnenaufgangs, dann ist auch die Taubildung am stärksten.