Jungenaufzucht bei Neuntötern und die Crux der Erkenntnisfindung

                                                                                   

Hochsommer! Wieder bin ich in Eisingen und habe Gelegenheit, Feld und Flur zu erkunden. Die jungen Füchse sind schon ein Weilchen aus dem Bau ausgeflogen und werden sich bald selbstständig machen. Das Vogelkonzert des Frühjahrs ist verstummt, wenngleich vereinzelt noch  Gesangseinlagen gegeben werden. Dafür beleben jetzt die Grashüpfer und Heuschrecken die Wiesen und Felder und geben ihre zirpenden Strophen zum Besten. Da ist das scharfe Zicken, den die große, auf grünem Grund mit Rottönen übermalte Sumpfschrecke, ertönen lässt. Wenn die Männchen ihre langen Hinterbeine schwungvoll nach hinten schleudern und kleine, an den Beinen sitzende Dornen an den Flügeln reiben, entsteht dieser Ton. In ähnlicher Weise formen auch die übrigen Heuschrecken und Grillen ihre Laute. Bei den Kurzfühlerschrecken, landläufig Grashüpfer genannt, zu denen die Sumpfschrecke zählt, werden immer die Hinterbeine gegen die Flügel gerieben. Die Langfühlerschrecken, u. a. das bekannte Grüne Heupferd, die Feld- oder die Maulwurfsgrille, reiben hingegen die beiden Flügel gegeneinander. Somit sind die von den Heuschrecken erzeugten Lautäußerungen ganz anderen Ursprungs als die Töne, die Säuger, Vögel oder auch Frösche und Reptilien über die Atmungsorgane Luftröhre und Lunge erzeugen. Das Trommeln der Spechte oder auch das Meckern der Bekassine kann allerdings mit der Lauterzeugung der Heuschrecken gleichgesetzt werden. Hier handelt es sich ebenfalls um Instrumentallaute. Allerdings haben die erzeugten Laute bei allen Tiergruppen einen gleichen Zweck. Es geht um Kommunikation, also den Austausch von Informationen und hier besonders um Werbung und Paarung und die Abgrenzung von Revieren. Und wie quakende Frösche, singende Vögel oder auch röhrende Hirsche, singen oder zirpen die Heuschrecken Stunde um Stunde. Die Kurzfühlerschrecken beschränken sich darauf, tagsüber zu zirpen, Langfühlerschrecken werden oft erst mit dem Sonnenuntergang aktiv. In wärmeren Regionen und auch in Eisingen singen z. B. die Weinhähnchen ab dem Abend aus den Weinbergen und entlang von Feldrainen und Gehölzgruppen bis weit in die Nacht hinein. Ihr Ton ist ein sehr melodiöses Zirpen, das den warmen Abenden und Nächten eine besondere Anmut verleiht.

Die meisten Wiesen sind jetzt abgemäht und viele wachsen bereits der zweiten Jahresmahd im Spätsommer entgegen. Sie tragen dann nicht mehr die farbenfrohe Blütenfülle des Frühsommers, aber dennoch wissen die weißgefärbte Wilde Möhre, der gelbe Odermennig, die blauen oder violetten Flockenblumen und Skabiosen das Auge zu erfreuen. Wo die Vegetation schütter wird, auf Brachflächen, an Feldrainen und über Steinriegeln zeigen sich der Wilde Majoran, der Wilde Thymian, die Kratzdistel, verschiedene Arten Johanniskräuter, Nacht- und Königskerzen und auch die stachelbewehrte Wilde Karde. Weitere Farbtupfer bieten der prallrote Klatschmohn und die filigranen blauen und violetten Blüten von Kornblume und Wiesensalbei. Hinzu gesellen sich verschiedene Kleesorten, die in gelber, weißer oder roter Version die Wiesen und Felder schmücken, dem Boden Stickstoff liefern und besonders den Schmetterlingsarten Nektar anbieten. Kaisermantel, Schachbrett, Mondvogel, Distelfalter, verschiedene Bläulinge und auch der Schwalbenschwanz suchen flatternd ihre Nahrung. Einmal entdecke ich ein Taubenschwänzchen, das wie ein Kolibri flügelschlagend vor den Blüten in der Luft steht und mit seinem langen Rüssel Nektar saugt. 

Wenngleich der Revier- und Balzgesang der Vögel nun so gut wie verstummt ist, heißt das nicht, dass nun von dieser Tiergruppe nichts zu sehen oder hören wäre. Zumeist sind sie noch mit der Aufzucht der Jungen beschäftigt, zumal viele Singvögel unter günstigen Bedingungen zwei- bis dreimal im Jahr brüten. Größere Vogelarten, wie Eulen und Greifvögel, aber auch die Krähen, Elstern und Raben, erlauben sich diesen Luxus nicht. Bei Greifen und Eulen kann das Ausbrüten der Eier schon gut fünf Wochen betragen, hinzu kommt eine ebenso lange Nestlingszeit. Haben die Jungen das Nest verlassen, dauert es noch einmal mehrere Wochen, bis sie sich eigenständig ernähren können. Ganz ähnlich verhält es sich auch beim Neuntöter. Er ist ein schmucker Geselle, das Männchen trägt rote Flügeldecken, eine schwarze Gesichtsmaske, einen grau gefärbten Kopf und Nacken und schwarz auslaufende Schwanzfedern. Die rote Färbung der Flügel stand Pate für seinen zweiten Namen, der Rotrückiger Würger lautet. Das Weibchen ist nicht ganz so bunt gefärbt, es erscheint im Gesamteindruck eher braungrau, bei grau gebänderter Brust und nur angedeuteter Gesichtsmaske. Ähnlich wie das Weibchen zeigen sich auch die ausgeflogenen Jungen, sie wirken aber noch etwas grauer. Alt wie jung tragen einen kräftigen Schnabel, der wie einen Mischung aus Krähen- und Greifvogelschnabel wirkt. Denn an der Spitze bildet er einen kräftigen und nach unten weisenden Haken aus. Mit 16 bis 18 cm Körperlänge ist der Neuntöter nicht größer als eine Goldammer oder eine Feldlerche. Während diese aber am Boden aber eher behäbig nach Insekten, Spinnen und auch Pflanzensamen picken, ist der Neuntöter ein behänder Jäger von Insekten, aber auch kleinen Wirbeltieren wie Mäusen, Eidechsen und Kleinvögeln. Dafür dient ihm der greifvogelähnliche Schnabel bestens. Den ungewöhnlichen Namen erhielt der Neuntöter von der Gewohnheit, erbeutete Tiere als Nahrungsvorräte auf Dornen aufzuspießen. Dazu hieß es früher, er würde erst neun Tiere fangen, bevor er mit dem Fressen anfängt. Das stimmt sicherlich nicht und die meiste Beute wird sogleich verzehrt oder an die Jungen verfüttert. Dennoch erscheint es als eine kluge Strategie, wenn Nahrungsvorräte, z. B. für Schlechtwetterperioden angelegt werden. Ähnliches praktizieren auch andere Würgerarten, so der größere, an eine Elster erinnernde Raubwürger, der bei uns zumeist nur als Wintergast erscheint. Im Südwesten Deutschlands kommt ganz vereinzelt noch der Rotkopfwürger vor. Der Schwarzstirnwürger, ein Bewohner der sommerwarmen östlichen Steppen ist in Deutschland ausgestorben. Bei allen Würgern tragen die Männchen eine charakteristische schwarze Gesichtsmaske. Männchen wie Weibchen haben einen Hakenschnabel und wenngleich sie sich in Färbung und Größe unterscheiden, weist ihr Habitus (u. a. Sitzhaltung, Jagdweise, Schwanzschlagen) sie alle als zur Würgerfamilie gehörend aus.

Der Neuntöter erscheint bei uns zumeist erst Anfang bis Mitte Mai. Zuerst kommen die Männchen ins Brutgebiet, einige Tage später treffen die Weibchen ein. Gerade erst im Brutgebiet angekommen, können sich die Vögel recht auffällig verhalten. Ihr Gesang ist allerdings leise und schon deshalb nicht oft zu hören. Er setzt sich aus Imitationen anderer Vogelstimmen zusammen. Auffälliger sind da schon Lock-, Warn und Erregungsrufe, wie das rhythmisch vorgetragen tack-tack-tack, das sich zum pointierteren tschack-tschack-tschack steigern kann. Sehr oft ist auch ein gut vernehmbares Tschäh oder Gäh zu hören. Wenn gut drei Wochen nach der Ankunft die Eier gelegt wurden und das Weibchen zu brüten begonnen hat, werden die Vögel jedoch ziemlich heimlich. Zwar lässt sich das Männchen immer einmal bei der Jagd oder auf einer Sitzwarte sehen, dennoch bleiben die Neuntöter in diesen Wochen und auch während der Nestlingszeit den Beobachtern vielmals verborgen. Ganz anders ist es ab dem Hochsommer, wenn die Jungen das Nest verlassen haben, schon umherflattern können und erste Jagdversuche unternehmen. Wie die ausgeflogenen Greifvögel sind sie aber noch nicht in der Lage, sich selbstständig zu versorgen und brauchen noch weitere Wochen Unterstützung durch die Altvögel. Jetzt legen die Neuntöter ihre Heimlichkeit ab, und wer sie eingehend beobachten möchte, erhält nun beste Gelegenheiten. Alle Würgerarten sind Bewohner von offenen park- oder savannenartigen Landschaften. Entlang von Heckenzügen, in denen dornige Sträucher wie Schlehe, Weißdorn und Brombeere wachsen und die von Feldern und Wiesen umgeben sind, halten sie sich bevorzugt auf. Waldränder, die an solche offenen Flächen anschließen und ebenfalls dornige Sträucher beherbergen, werden ebenfalls besiedelt. Erfolgreiche Bruten können aber nur dort gelingen, wo die Vegetation ein vielfältiges Mosaik darbietet, mit Standorten für unterschiedliche Pflanzengesellschaften und als Lebens- und Aufenthaltsraum für größere Insekten und andere Kleintiere in Frage kommt. Soweit diese Voraussetzungen gegeben sind, kann der Neuntöter in ganz Europa existieren und er kommt in Deutschland flächendeckend vor. Wo die Landschaft allerdings ausgeräumt wurde, Knicks oder Feldhecken beseitigt, Wiesen und Felder nur noch wenige Nutzpflanzen beherbergen und Insekten verschwunden sind, wandert der Neuntöter ab.

Bereits an meinem ersten Sommertag in Eisingen stoße ich auf die Neuntöter. Da ich viele der Aufenthaltsplätze aus den Vorjahren kenne, fällt das nicht schwer. Oft höre ich das Gäh und Tschäh und auch die warnenden tack-tack-tack-Laute, besonders dann, wenn ich in die Nähe der Jungen komme. Allerdings, das sei erwähnt, warnt auch die lebhafte Dorngrasmücke mit für mich fast gleich klingenden Rufen oder hält mit ihnen Kontakt zu Artgenossen. Doch so auffällig, wie sich die Neuntöter jetzt gebärden, kann mich die öfter vorkommende Verwechselung der Rufe beider Arten nicht  irritieren. Denn sind sie ständig zu sehen. Typisch ist die Präsenz der Männchen auf einer höheren Sitzwarte. Dafür werden gerne die höchsten aus einer Feldhecke herausragenden Äst angenommen. Manchmal sitzen sie aber auch tiefer in der Hecke, oder zeigen sich rastend und lauernd auf den hochstehenden Getreideähren oder den Halmen des reifen Rapses. Immer schauen sie aufmerksam umher und oft höre ich das Tschä und Gäh. Charakteristisch ist das Drehen und fortwährende nach unten Schlagen des Schwanzes. Unvermittelt startet es zum Jagdflug, der nicht selten in einem nach oben gehenden Bogen beginnt, ein Stück horizontal weiterführt um im weiteren eleganten Bogen flach über dem Boden noch in der Luft ein Beutetier zu erhaschen. Oft geht es dann, ohne zwischendurch zu landen, zuerst noch ganz flach, dann elegant aufsteigend, zur Sitzwarte zurück. Viele Jagdflüge führen jedoch auch erst zum Erdboden, um dort sitzend, eine Beute aufzunehmen. Übrigens gehen die Jagdflüge selten mehr als 50 Meter weit. Wenn Männchen oder auch Weibchen mit einer Beute zurückkommen, ertönt oft das bettelnde tack-tack-tack der Jungen, die noch gefüttert werden wollen. Allerdings verlieren die Alten zusehends die Neigung zum Füttern und mir scheint es oft so, als wären sie unschlüssig, ob sie den Jungen etwas geben oder sich lieber selbst versorgen sollen. Gerade innerhalb der zweieinhalb Wochen, in denen ich regelmäßig bei den Neuntötern bin, werden nach meiner Einschätzung die Fütterungen weniger. Dennoch sehe ich öfter Altvögel, die Beutetiere, häufig Grüne Heupferde, zu den Jungen tragen und bin einmal ganz nah dran, als ein Weibchen mit dieser Beute füttert. Ein Junges erhascht das ganze Kerbtier, das Andere wirkt ganz verdutzt darüber, dass es leer ausgeht. Wie verärgert bedrängt es das Weibchen, doch das hat nichts mehr anzubieten. So fliegt es den Jungen, die noch keine guten Flieger sind, davon. Da nützt auch der klagende Bettelruf, den das Junge von sich gibt, nichts. Weil es auf den Wiesen und Feldern zu meiner Freude reichlich Grüne Heupferde und andere Heuschrecken gibt und viele Schmetterlinge umherflattern, sollte die Versorgung der Jungen in diesem Sommer insgesamt Problem darstellen. Was die Vögel sonst noch erbeuten, entgeht mir leider. Zumeist bin ich doch wenigstens zehn, zwanzig und mehr Meter von ihnen weg und da gehört immer etwas Glück dazu, die doch kleine Beute zu erkennen.

Außerdem, und das irritiert mich nicht nur in diesem Jahr, fand ich erst einmal vor vielen Jahren, eine aufgespießte Beute. Es handelte sich um eine Hummel. So oft ich ansonsten die in Frage kommenden Dornbüsche absuchte, ging ich leer aus. Möglicherweise wird das Aufspießen der Beute nicht von allen Neuntöterpopulationen  regelmäßig ausgeführt. Da das Aufspießen zur Nahrungsbevorratung dienen soll, könnte es außerdem durchaus sein, dass dies eher in klimatisch ungünstigen Gegenden praktiziert wird oder nur wenn die Wetterlage Kühle und regenreiche Tage mit sich bringt. Was mir aber in diesen Tagen noch mehr als bei früheren Beobachtungen auffällt, ist die hohe Brutdichte der Vögel. Ich gelange zu der Einschätzung, dass eine Hecke, die nicht mehr als zehn Meter lang du fünf Meter breit ist, durchaus zwei Brutpaare beherbergen kann. Oder, und das ist ein Frage, die ich mir schon länger stelle, kann es sein, dass sich mehrere Männchen an der Aufzucht einer Brut beteiligen? Vielleicht bilden die Vögel, z. B., wenn in einem Gebiet eine große Population lebt, auch kleine Kolonien aus, in denen mehrere Paare dicht beieinander brüten? Ich sehe auf jeden Fall mehrfach, dass zwei Männchen nicht mehr als 50 Zentimeter voneinander entfernt sitzen. Ganz dicht nebeneinander, wie oft Männchen und Weibchen und auch Alte und Junge, gesellen sie sich aber nicht zueinander. Eine gewisse Intoleranz gegen einen männlichen Artgenossen, scheint vorhanden zu sein. Auch die Weibchen können in ähnlich kleinen Abständen zueinander sitzen, ob sie ganz ohne Aggression sich noch näher kommen, entzieht sich meinen Nachforschungen. Generell befinden sich die Weibchen nicht so oft wie die Männchen auf exponierter Warte, sie sind mehr in der Mitte der Büsche oder in deren Innerem. Alleine das erschwert dahin gehende Einschätzungen zu den Weibchen. So beschränke ich mich in meinen Schilderungen auf die Männchen. Mehrmals sehe ich, wie ein Männchen eine Sitzwarte anfliegt, die ein anderes Männchen besetzt hält. Das führt dann entweder dazu, dass das zuerst sitzende Männchen wegfliegt, doch ebenso kommt die andere Variante zur Geltung. Die heißt, das die Sitzwarte anfliegende zweite Männchen, weicht dem zuerst sitzenden Tier aus. Nach dieser kurzen und fast unmittelbaren Berührung halten die beide Männchen zwar einen Abstand zueinander ein, der kann aber (s. o.) sehr klein sein. Ob, Männchen oder auch Weibchen, die mit den brütenden Altvögeln verschwistert sind, sich bei der Aufzucht beteiligen Unter Umständen dann, wenn sie selbst keinen Bruterfolg haben oder hatten? Diese Interpretation würde immerhin die Sichtweise der Soziobiologie, wonach jedes Individuum bestrebt ist, seine eigenen Gene zu fördern, unterstützen. Denn Geschwister der Eltern teilen mit den Nachkommen immerhin 25 % der Gene.

Wie sich das im Einzelnen bei den Neuntötern verhält, werde ich mit meinen Möglichkeiten nicht herausfinden. Denn dazu müsste ich Paarbildung und Aufzucht über mehrere Jahre von Mai bis August verfolgen, müsste mittels Kennzeichnung am besten durch gut ersichtliche Bänder oder Ähnliches, die einzelnen Vögel voneinander unterscheiden können, und, und, und….

Die Beobachtungen des Sommers, aber auch frühere Jahre, lassen mich aber darüber nachsinnen, in welcher Weise überkommene Weltbilder und Wertvorstellungen Vogelbeobachtern und Verhaltensforschern ein Schnippchen schlagen können. Da geht es ihnen nicht anders als allen anderen Menschen. So galt und gilt die Einehe über Jahrhunderte im Abendland als die einzige „anständige“ Beziehungsform mit sexuellem Austausch. Obgleich die davon abgeleitete Klein- oder Kernfamilie mit einem Elternpaar und den Kindern erst eine Entwicklung der letzten einhundertfünfzig Jahre ist, wurde sie in diesem Zeitraum zur allgemein anerkannten und gesetzlich abgesicherten Norm. Erst in jüngster Zeit ist ein Abrücken davon zu erkennen. Wer in den kaum mehr als zweihundert Jahren, in denen es eine ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit tierischem Verhalten gibt, Tiere studierte, war daher in der Vorstellung  gefangen, dass die die Einehe die einzige und naturgegebene Fortpflanzungsgemeinschaft darstellt. Das führte dann, um auf die Vögel zurückzukommen, zu der Wahrnehmung, dass fast alle Vögel  paarweise brüten und paarweise die Jungen aufziehen. Das jährlich durchgeführte Vogelmonitoring nimmt dies zur Grundlage. Wenn ein Vogelmännchen im Frühling am passenden Ort  seine Balzstrophe vorträgt, gilt es als Revieranwärter oder Revierinhaber. Die daraus abgeleitete Annahme lautet, es möchte ein Weibchen begatten und gemeinsam mit ihm Junge aufziehen. Abgewichen wird davon nur, wenn ein anderes Fortpflanzungsverhalten ganz offensichtlich und in der Literatur entsprechend beschrieben ist. Zugegeben, es hat  sich unter Ornithologen herumgesprochen, dass  Vögel  verschiedene Varianten von Fortpflanzungsgemeinschaften, Revierbildungen und Muster der Jungenaufzucht praktizieren,  und dass weder die Vogelmännchen, noch die Vogelweibchen zwangsläufig in monogamer Einehe leben. Aber kann es darüber hinaus nicht sein, dass die Fütterung des brütenden Weibchens und der Jungvögel – soweit sich die Männchen überhaupt daran beteiligen – nicht nur von einem, sondern von mehreren Männchen vorgenommen wird? Sicher lässt sich das nämlich nur feststellen, wenn das jeweils fütternde Männchen sich deutlich von anderen Männchen derselben Art unterscheiden lässt. Dies geht zumeist nur über eine künstliche individuelle Kennzeichnung (s. o.). Um dem Ganzen noch die Spitze aufzusetzen: ist es möglich, dass sich auch bei den uns vertrauten heimischen Arten, mehrere Weibchen sich  beim Brüten abwechseln?

Ich möchte mich nicht weiter auf dieses dünne Eis begeben und mir ist klar, dass inzwischen mit der Hilfe von genetischen Untersuchungen, sich Eltern und Kinder zweifelsfrei zuordnen lassen und es Methoden gibt, mit denen herausgefunden werden kann, ob immer derselbe Vogel füttert und/oder brütet. Ich weiß auch nicht, wie oft, wie regelmäßig und ob überhaupt solche aufwändigen Untersuchungen durchgeführt werden. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass auch die vermeintlich wertfreie Naturwissenschaft, nicht frei davon ist, überlieferte und gelebte Normen stillschweigend in die Erkenntnisfindung einfließen zu lassen. Das geschieht zumeist ganz unbewusst, denn, so meine These, niemand kann sich den Prägungen mit denen er aufwuchs, entziehen. Es hilft nur, sich genau dessen bewusst zu sein und die Fragestellungen, die Untersuchungen und die Schlussfolgerungen die vorgenommen werden, kritisch auf diesen Sachverhalt hin zu hinterfragen. 

Angelehnt an den Philosophen Sokrates kann ich als Resümee´ zu meinen Neutöterbeobachtungen  sagen „[...]ich weiß, dass ich nichts weiß[...]“ Ich weiß nicht, ob mehrere Männchen eine Brut füttern, wie sich das bei den Weibchen verhält und welche verwandtschaftlichen und anderen Beziehungen zwischen den fütternden und sich dicht beieinander aufhaltenden Vögeln existieren. Dennoch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Aufzuchtverhalten und die Paarbindung bei den Neuntötern möglicherweise vielschichtiger ist, als dies in den Lehrbüchern steht. Mit Sicherheit habe ich überdies herausgefunden, dass sie in weitaus größerer Dichte im Eisinger Gebiet vorkommen, als ich bisher annahm. Mir scheint, dass so gut wie alle möglichen Brutplätze besetzt sind. Bestimmt trug dazu der trockene Sommer des Vorjahres bei und ebenso dürfte das heiße Wetter in diesem Jahr den Vögeln zupass kommen. Für die Beutetiere der Neuntöter, also vor allem Heuschrecken, Schmetterlinge und andere Insekten, sind das günstige Bedingungen, von denen viele andere Insektenfresser profitieren sollten. Wie nahe für den Jäger Neuntöter das Schicksal, selbst Beute zu werden sein kann, wird mir an einem Tag sehr deutlich. Mehrfach im Verlaufe von ein oder zwei Stunden fliegt ein Habichtmännchen flach über die Büsche auf und in denen die Neuntöter sitzen. Sicherlich wartet es darauf, eines der exponiert sitzenden Männchen oder auch einen unerfahrenen Jungvogel im plötzlichen Angriff zu erwischen. Ein oder zwei Tage später finde ich auf dem Feld neben einer Hecke eine frisch gerupfte diesjährige, bereits flügge Amsel. Das hätte auch einen Neuntöter treffen können.

Noch einige Wochen werden die Vögel hier bleiben und sich für den weiten Flug ins tropische Afrika zu wappnen. Für die Jungen heißt das vor allem, ausreichende Jagderfahrungen zu sammeln. Spätestens Ende August geht es auf die Reise. Ich freue mich, wenn es ihnen dort gut ergeht. Im nächsten Jahr werde ich ihnen wieder nachspüren und zu meinen Beobachtungen weitere Mosaiksteine hinzufügen können.

Juni 2019

 

Zum Seitenanfang