Beobachterglück

                                                                                             

Es ist Ende April. Der Frühling kommt langsam auf Touren und im Augenblick steigen die Tagestemperaturen bereits auf über 20° C. Ich bin für mehrere Tage in Eisingen zu Besuch. Dort bin ich aufgewachsen und auch heute noch zieht es mich regelmäßig dort hin. Einerseits um viele Freunde zu besuchen, doch auch, weil ich die dortige Landschaft, mit den sanft geschwungenen Hügeln, den kleinen naturnahen Wäldchen und besonders den blütenreichen Streuobstwiesen, liebe. Waren diese vor Jahrzehnten noch überall ein regelmäßiges Landschaftselement, so sind sie inzwischen selten geworden. Ein regelmäßig hoher Nährstoffeintrag, sehr oft eine Folge der Gülleausbringung aus der intensiven Tierhaltung, lässt zwar die konkurrenzstarken Gräser schnell heranwachsen. Das erlaubt pro Jahr bis zu vier Wiesenmahden, was die Viehhalter erfreut. Dafür bleiben die bunten und an nährstoffärmere Standorte gebundenen Wiesenblumen auf der Strecke. Mit einher geht ein Verlust an biologischer Vielfalt. Sei es bei den Pflanzen selbst, den blütenbesuchenden Insekten und auch den in der Wiese lebenden Heuschrecken. Die häufige Wiesenmahd lässt wiesenbrütenden Vögeln wie Braunkehlchen, Baumpieper, Schafstelze oder Kiebitz nicht genug Zeit, ihre Eier auszubrüten und außerdem mangelt es ihnen an Insekten und an Neststandorten, die trocken genug für die wärmebedürftigen Küken sind.  Wenngleich diese Entwicklungen auch in Eisingen und im gesamten Enzkreis um sich gegriffen haben, blieben hier noch viele artenreiche Wiesen erhalten. In der Region existierten immer nur kleinere Bauernhöfe, die in kleinen Schlägen wirtschaften mussten. Dies ist eine Folge der Realerbeteilung, die besagte, dass die Hoffläche in jeder Generation an alle Söhne eines Hofinhabers gleichmäßig vererbt wurde. Wirtschaftlich entwickelte sich das für die Bauern über kurz oder lang zur Sackgasse, der landschaftlichen Vielfalt tat diese Regelung aber unbeabsichtigt gut. Im Verein mit den  geologischen und klimatischen Bedingungen der Region und verschiedenen Fördermaßnahmen der Landesregierungen, trug dieser Umstand dazu bei, dass hier deutschlandweit der höchste Anteil an sogenannten artenreichen Flachlandmähwiesen erhalten bleiben konnte.

Dort gibt es immer viel zu sehen und zu erkunden. Sei es der blau und violett blühende Wiesensalbei mit seinem Blütenaufbau, der nur den Hummeln die Bestäubung zulässt. Oder der gelbblühende Klappertopf, der bei anderen Pflanzen schmarotzt. Seine reifen Samen klappern, noch in der Blüte steckend, im Wind, daher der Name. Weitere Sehenswürdigkeiten sind der Steinbrech, die Witwenblume, die Margerite, der Arnika und verschiedene Arten von Glockenblumen und Habichtskräutern. Um diese Jahreszeit sind die Feldgrillen aktiv und sie machen sich ab den Vormittagsstunden lautstark durch ihr Zirpen bemerkbar. Dieses Geräusch entsteht beim Aneinanderreiben der Vorderflügel und mit ihm markieren die Männchen ihre Reviere und locken die Weibchen an. Falls zwei Männchen nahe beieinander sitzen oder ein Weibchen den Weg kreuzt, wird das Zirpen noch einmal kräftiger. Die Grillen hausen in kleinfingerdicken Erdlöchern. Mit Glück lassen sie sich außerhalb der Löcher beobachten, denn zum Zirpen werden diese verlassen. Zur Frühlings- und Frühsommerwiese gehört für mich das Zirpen der Grillen, ebenso wie die Vogelgesänge in Wald und Feld oder die Rufe der Möwen an der Küste, ganz einfach dazu. Die Feldgrillen verstummen zwar ab der Mitte des Sommers, doch andere Heuschrecken wie das Grüne Heupferd, die Keulenschrecke, der Nachtigallengrashüpfer oder der Braune Grashüpfer treten an ihre Stelle.

Ich bin in aller Frühe unterwegs, um diese Uhrzeit brauche ich noch nicht mit Grillen zu rechnen. Aber Hausrotschwanz und  Amsel haben mich aus dem Bett gerufen und während ich durch den Wald in Richtung Gengenbachtal gehe, jubiliert die Singdrossel, flötet die Misteldrossel und die Mönchsgrasmücke schmettert ihre Strophe. Es ist kalt und klamm und die Sonne noch nicht aufgegangen. Das wären gute Voraussetzungen für die Feuersalamander, doch am Waldboden und unter Steinen und am Boden liegenden Totholz finde ich heute keine. Mein erster Weg führt zu einer sehr verwachsenen Stelle. Dort gibt es viele Erdbaue, die abwechselnd von Fuchs und Dachs bewohnt werden. Wie ich sehe, wurde eine kleine Fichtenschonung, die das Areal abdeckte, jüngst gerodet. So entstanden neue besonnte Plätze, wo sich – wenigstens vorübergehend -  viele Kräuter und auch Insekten ansiedeln können. Wie ich schon fast bei den Bauen bin, höre ich ein Rascheln. Davon neugierig gemacht, schaue ich umher und sehe ein kleines braunes Tier. Was ist das? Ein Marder? Nein, jetzt bleibt es für einen Moment stehen, ich habe Zeit, um durch das Fernglas zu schauen. Da steht ein Fuchswelpe, vielleicht gerade vier Wochen alt. Die später spitz werdende Schnauze ist noch ziemlich stumpf, die Beinchen kurz und der Schwanz überhaupt nicht buschig, sondern nur kurz behaart. Das Füchslein schaut mich interessiert an, zieht sich aber doch schnell zurück. So nahe einen Fuchswelpen, das erlebte ich noch nie!  Als der kleine Kerl verschwindet, folge ich nicht nach, ich möchte keine Unruhe an den Bau bringen. Doch lässt mir das Erlebnis keine Ruhe. So bin ich am nächsten Morgen noch etwas früher auf den Beinen, denn ganz nahe bei den Bauen steht ein Hochsitz und von dort müsste ich die Welpen gut beobachten können. Vorausgesetzt, sie sind vor dem Bau. Es dämmert gerade, als ich dort ankomme. So leise und unauffällig wie möglich steige ich auf den Hochsitz. Zunächst sehe ich nichts, doch Tiere beobachten heißt warten. Aber das Beobachterglück ist mir hold. Ich erkenne auf dem braunen Erdboden ein fast ebenso braunes Füchslein. Wenige Meter davon entfernt liegt ein zweites. Sie schlafen, was mich beruhigt. Denn das bedeutet, dass sie mich entweder nicht bemerken oder sich wenigstens von meiner Anwesenheit nicht stören lassen. Wie schon geschildert, schätze ich das Alter der Welpen auf maximal vier Wochen. Wie alle Raubtiere kommen die Jungen fast nackt und blind zur Welt. Die Fähe säugt sie dann immer wieder, unterstützt durch Bauchlecken die Verdauung und frisst die Hinterlassenschaften aus hygienischen Gründen zu dieser Zeit auch auf. Selbstverständlich muss sie öfter zu Jagdzügen den Bau und die Welpen verlassen, doch andererseits versorgt auch häufig der Rüde in diesen Wochen sowohl die Fähe wie später die Welpen mit Futter. Bei gutem Nahrungsangebot wachsen die anfangs kaum 100 Gramm schweren Welpen schnell heran, sie öffnen mit ca. 16 Tagen die Augen und begeben sich nun bald erstmalig aus dem Bau. Ab der vierten Woche bringen die Alttiere feste Nahrung herbei, zeitgleich beginnt die Entwöhnung von der Muttermilch. Zum Frühsommer hin werden die Welpen immer selbstständiger, sie streifen nun bereits oft alleine oder mit Geschwistern umher, kommen aber noch regelmäßig zum Bau zurück. Im Verlaufe des Sommers werden die Bindungen zu den Alttieren und den Geschwistern zusehends schwächer und für die Jungen beginnt dann eine harte Bewährungsprobe, die viele nicht überleben werden. Aber so weit sind meine Füchslein noch nicht. Sie schlafen die meiste Zeit, nur ab und an wird das Köpfchen gereckt, gegähnt und umher geschaut. Schließlich werden sie beide wacher und einer der Welpen entschließt sich, sein Geschwisterchen mit Liebkosungen zu verwöhnen. Die putzigen Fellknäuel schmiegen sich aneinander. Nun gesellt sich ein dritter Welpe, den ich bisher noch nicht gesehen habe, hinzu und er beteiligt sich an dem Schmusespiel. Spielerisch wir auch miteinander gehändelt, dafür zwicken sie sich mit sanften Bissen ins Fell. Der Dritte bleibt jedoch nicht lange, sondern geht wieder solitär und legt sich an einen inzwischen sonnenbeschienenen Platz nieder. Dort räkelt er sich behaglich und genießt ausgestreckt die Sonnenstrahlen. Als ob das nicht genug Beobachtergenuss wäre, sehe ich jetzt noch zwei weitere Welpen, die allerdings ein paar Meter abseits sich aufhalten. Sie spielen ebenfalls miteinander, doch erscheint ihr Spiel schon ein wenig rustikaler. Sie zeigen kleine Ringkämpfe, unterstützt von Beißbewegungen und vergnügt wälzen sich die noch pummeligen Rivalen miteinander. Wie die anderen unterbrechen sie das Spiel öfter mit Ruhe- und Schlafpausen. Doch bald geht es weiter und im Spielrepertoire findet sich auch gegenseitiges Anschleichen und Fangen und die Füchslein versuchen, wenngleich noch sehr spielbetont, umherfliegende Insekten zu erhaschen. Die Welpen sind unterschiedlich groß, einer erscheint deutlich kleiner als die anderen zu sein. Doch habe ich nicht den Eindruck, dass ihn das benachteiligt. Nach rund drei Stunden verschwinden die Welpen aus meinem Blickfeld und vermutlich in den Bau.

Welche Beobachtung! Fuchswelpen, so nahe und so familiär, die völlig ungehemmt durch meine Nähe miteinander spielen. Die folgenden Tage bin ich nicht am Bau, einmal, weil es Regenwetter gibt, aber auch, weil ich die Welpen und besonders die Alttiere nicht durch meine ständige Anwesenheit beunruhigen möchte. Vier Tage später sitze ich wieder auf dem Hochsitz. In den letzten Tagen kühlte es sehr ab, nachts und am frühen Morgen gibt es frostige Temperaturen. Im Wiesental sind die Grasspitzen mit Raureif überzogen. Das soll mich nicht stören. Leider kommt heute kein Fuchs. Hat die Fähe meine Anwesenheit doch bemerkt und als Vorsichtsmaßnahme die Welpen zu einem anderen Bau gebracht? Das geschieht nicht selten. Dafür nehmen die Fähen jeden Welpen einzeln auf, packen ihn dabei im Genick, was ihn ganz steif werden lässt und transportieren dann Welpen für Welpen einzeln zu einem anderen Bau. Das ist mühsam und beschwerlich, aber eine erprobte Verhaltensweise, die auch Haus- und andere Wildhunde, Katzen und Marder praktizieren. Ich warte rund zwei Stunden in der Morgenkälte. Als ich dann immer noch nichts tut, verlasse ich den Hochsitz.

Wieder zwei Tage später komme ich zurück. Sind die Welpen noch da? Ich bin sehr gespannt. Erneut benetzt Raureif die Wiesen und ist es auf dem Hochsitz kalt. Doch ich entdecke einen Welpen. Wie schön! Ein weiteres Mal winken ganz besondere Beobachtungen. Da ertönt im Hintergrund ein Büchsenschuss. Er galt zwar nicht dem Fuchs, dafür mit Sicherheit einem Rehbock. Die sind ab dem 1. Mai, der ist heute, für die Jagd freigegeben. Der frühe Beginn der Rehbockjagd ist für die Jäger ein ganz besonderer Termin. Ob er auch für die Rehe günstig liegt, sei dahin gestellt. Ich denke da jetzt nicht allein an die erlegten Böcke. Doch jetzt setzen die Rehricken ihre Kitze und bald beginnt die Brunftzeit der Rehe. Ist es da wirklich waidmännisch, genau in diesem Zeitraum mit der Jagdsaison zu beginnen? Jedenfalls, und das ärgert mich im Augenblick, verschwindet das Füchslein nachdem der Schuss ertönt. Er und seine Geschwister kommen an diesem Morgen nicht wieder aus dem Bau. Das ist schade, umso mehr, als ich übermorgen wegfahren werde und weitere Beobachtungen am Bau nicht mehr möglich sind. Lange hält die Enttäuschung nicht an und ich kann mich bald wieder am Trommelwirbel eines Schwarzspechts und dem melodiösen Pfeifen des schönen und seltenen Pirols erfreuen. Außerdem, dessen bin ich mir gewiss, die Erlebnisse am Fuchsbau werden in meiner Erinnerung bleiben. 

April 2019

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