Schrille Rufe, reißender Flug – Geschichten vom Mauersegler         

Es ist Anfang Juli. Lange hielt sich der Sommer in diesem Jahr versteckt, dann kam er im Juni auf Hochtouren und bescherte selbst Norddeutschland Temperaturen von bis zu 38°C. Nun ist er wieder auf Tauchstation gegangen und bietet in den nächsten Tag nur viel Wind und Temperaturen von kaum 20°C. Die Hitze und die auch in diesem Jahr recht trockene Witterung bekommt nicht allen, weder Tieren wie Menschen. Gestern inspizierte ich einige Tümpel in der Feldmark. Sie sind fast vollständig ausgetrocknet. Am Tümpelgrund hüpften kleine Grasfrösche, die seit kurzem das Larvenstadium hinter sich ließen. Sie haben nun voll ausgebildete Lungen und da sie nun laufen oder besser hüpfen können, brauchen sie zwar wie alle Amphibien nach wie vor ein feuchtes Milieu, sind aber nicht mehr auf offenes Wasser angewiesen. Andere Amphibienlarven, die die Umwandlung noch nicht abgeschlossen haben, werden es nicht überleben, wenn ihr Laichgewässer austrocknet. Ich gehe davon aus, dass es den Larven von Libellen, Eintagsfliegen, Schwimm- und Wasserkäfern in vielen Gewässern ganz genau so geht.

Von den heißen Tagen profitieren hingegen die Mauersegler. Nun pfeifen sie wieder durch die Häuserschluchten und hoch über den Dächern, vollführen wilde, mitreißende Flugmanöver und machen mit schrillen Rufen auf sich aufmerksam. Noch sitzen die Jungen im Nest, doch bald werden sie ausfliegen und wenn sie neben den Alten unterwegs sind, sind die pfeilschnellen Flieger mit ihren auffälligen Rufen auch von Laien kaum mehr überseh- und -hörbar. Es gibt sicher viele Menschen, die die Mauersegler für Schwalben halten. Zwar haben die Segler als Folge einer ähnlichen Spezialisierung der Nahrungssuche und Jagdweise, spitze, sichelförmige Flügel und auch ihr Schwanz ist schwach gegabelt. Doch ihr Flug ist viel reißender, geradliniger und weniger flatternd. Tatsächlich zählen die Segler systematisch nicht zu den Sperlingsvögeln, wie die Schwalben, sondern zu den sogenannten Schwirrflüglern, in die auch die Kolibris eingruppiert sind. Der Mauersegler (Apus apus) ist nördlich der Alpen die einzige Art aus dieser Gruppe. Im Süden des Kontinents kommen noch Alpen- und Fahlsegler hinzu. Die Mehrzahl der Seglerarten lebt in den Tropen und die Kolibris sind nur auf dem amerikanischen Doppelkontinent vertreten. Tatsächlich ist „unser“ Mauersegler auch die meiste Zeit des Jahres ein Afrikaner, denn nur in den Monaten Mai, Juni und Juli hält er sich in Mitteleuropa auf. Obgleich ein Kind der Sonne und des Südens, brüten Mauersegler auch in Nordskandinavien und in Sibirien. Es klingt widersprüchlich,  doch in seinen nördlichen Brutgebieten bleibt der Vogel länger als in den südlicheren. Woran liegt das? Mauersegler legen zwei bis drei Eier, die rund 20 Tage lang bebrütet werden. Bei anderen Vögeln dauert es dann noch einmal zwei bis drei Wochen, bis die Küken das Nest verlassen um anschließend nach und selbstständiger zu werden. Nicht so beim Mauersegler. Wie geschrieben, sie sind Kinder des Südens und der Sonne. Ihre reißenden Flüge dienen dazu, kleine Insekten und Spinnentiere, die durch warme Aufwinde in höchste Höhen getragen werden, mit weit aufgerissenem Schnabel aufzufangen. Soweit die Altvögel diese nicht selbst fressen, bewahren sie die Beute im Schnabel (und vielleicht auch im Kropf) auf. Sie wird, zwangsläufig mit Speichel vermischt, den Jungen und auch brütenden Elternvögeln als Eiweiß- und Chitinklumpen verfüttert. Wenn es im Sommer kühl und regnerisch ist, sind kaum Insekten unterwegs und es gibt für die Segler nur wenig zu fressen. Als würden sich die Vögel dann auf ihre von den Reptilien herführende Stammesgeschichte erinnern, fallen dann Junge und gelegentlich auch Alte in einen vorübergehenden Kälteschlaf, Topor genannt. Ganz interessant ist dabei, dass die in der Lebens- und Jagdweise den Mauerseglern nicht unähnlichen Fledermäuse eine ähnliche Strategie haben, um kalte Sommertage zu überstehen. Dabei sind sie allesamt Warmblüter, das heißt, ihre Körpertemperatur wir über eine ausreichende Energiezufuhr (Nahrungsmenge) und guter Isolierung durch Fettschichten, Federn oder Haare aufrecht gehalten. Anders die übrigen Wirbeltiere, die Fische, Amphibien und Reptilien, deren Körpertemperatur mit der Außentemperatur schwankt. Allerdings ist und bleibt zoologische Erkenntnis und Klassifikation nicht in Stein gemeißelt. So werden Säugetiere wie Vögel systematisch inzwischen als Bestandteil eines weit verzweigten Reptilienstammbaums angesehen. Und da winterschlafende Säugetiere Atmung, Herzschlag und Körpertemperatur stark reduzieren, die bekannten Dinosaurier (die in den Vögeln fortleben) aber wahrscheinlich warmblütig waren, unterliegen alle diese Einordnung den Schwankungen menschlichen Wissens und Erkennens.

Jedenfalls kann die Nestlingsdauer bei Mauerseglern aufgrund von Phasen des Kälteschlafs mehr als 50 Tage betragen. So wird klar, weshalb Vögel, die weit im Norden brüten und häufig Kälteeinbrüche erleben, im Durchschnitt länger im Brutgebiet bleiben, als in Mitteleuropa oder gar Südeuropa. Die Altvögel weichen Schlechtwetterphasen auch dadurch aus, dass sie vorübergehend in  wärmere Gebiete fliegen. Bei einer Fluggeschwindigkeit von 200 km/h ist ein Mauersegler schnell einmal vom kühlen Norddeutschland in die warme Oberrheinebene durchgestartet. Bleibt noch die Frage, weshalb insektenfressende Vögel, die alle im Süden überwintern und nicht selten jährlich zweimal mehr als zehntausend Kilometer zurücklegen, überhaupt die weiten, entbehrungs- und auch verlustreichen  Wanderungen unternehmen? Das rührt daher, dass in den warmen Monaten in den nördlichen Regionen das Nahrungsangebot besser ist, vor allem auch, weil bei den langen Tagen des Nordens die Vögel täglich viel länger Insekten fangen können.

Greifvögel, die einen Mauersegler erwischen wollen, müssen sich ziemlich anstrengen. Vermutlich haben hierzulande nur die im Sturzflug sehr schnellen Wander- und Baumfalken bei einem Überraschungsangriff Aussicht auf Erfolg. Da sich die Nester hinter kleinsten Einfluglöchern unter Dachvorsprüngen und in Mauerritzen befinden, sind die Gelege ebenfalls kaum gefährdet. Selbstverständlich werden Parasiten wie Läuse und Flöhe, Jungen wie Alten zusetzen. Was für ein Nest baut der Mauersegler überhaupt? In die kleinen Aussparungen, die er unter Beschlag nimmt, trägt er aus der Luft gegriffene Pflanzenteile, wie die schirmartigen oder haarigen Früchte vom Löwenzahn, den Weiden und Pappeln oder des Rohrkolbens, ein. Vermischt mit Speichel stellt er eine klebrige Masse her, aus der sich ein haltbares Nest formen lässt. Es scheint in Deutschland und anderswo auch einige Kolonien von Mauerseglern in alten Wäldern mit vielen Höhlenbäumen geben und ursprünglich waren die Mauersegler sowohl Fels- wie Baumbrüter. Brutplätze an den Häusern in Städten und Dörfern haben sich die Mauersegler also als Kulturfolger der Menschen erschlossen und dabei über rund 2000 Jahre ein immer größer werdendes Angebot bekommen. Nur in der jüngsten Zeit, gibt es da für die Vögel, die nicht nur im Wald zumeist in Kolonien brüten, ein Problem. Die Isolierung von Gebäuden zur Energieeinsparung ist umweltpolitisch eine wichtige Sache. Sie hat allerdings die Kehrseite, dass dabei die Lücken unter Dächern und im Mauerwerk, die neben den Mauerseglern auch u. a. von Fledermäusen, Fliegenschnäppern, Rotschwänzen und vielen Insektenarten als Nist- und Brutplatz dienen, wegsaniert werden. Theoretisch muss im Vorwege jeder Fassaden- und Dachsanierung und auch jeden Hausabrisses geprüft werden, ob sich dort geschützte Arten aufhalten. Ist dies der Fall, so gibt es die Verpflichtung, Ersatz zu schaffen, z. B. mittels künstlicher Nisthilfen. In der Praxis wird diese Pflicht aber sehr oft umgangen, vielfach alleine aus Unkenntnis sowohl über die Rechtslage wie das Vorkommen von Tieren. Häufig scheuen aber die Eigentümer die zusätzlichen Kosten und den Aufwand, der entsteht, wenn Bruten an der Fassade nachgewiesen werden und Ersatznester angebracht werden müssen. Sind die Brutplätze allerdings ortskundigen Experten bekannt, so haben sie das Recht und formal sogar die Pflicht, die Bauherren darauf und auf die Verpflichtung Nisthilfen anzubringen, hinzuweisen. Unternimmt dieser dann nichts, so ist das mindestens eine Ordnungswidrigkeit, die mit Bußgeldern geahndet wird. Außerdem befreit die Zahlung eines Bußgelds nicht davor, verlorene Brutstätten zu ersetzten. Ich höre beim Schreiben die vermutlich zahlreichen Stimmen, die solche Regelungen für viel zu bürokratisch, übertrieben, unnötig und unangemessen halten und es läppisch finden, dass wegen ein paar Vögeln Hauseigentümer so drangsaliert werden. Dem kann ich nur entgegen halten, dass Natur- und Artenschutz Ausdruck einer Wertehaltung und nicht umsonst zu haben sind. Wer sich also von den reißenden Flugmanövern der Mauersegler in den Bann ziehen lässt und generell möchte, dass in unserer Lebenswelt Blüten, Insekten, Vögel, Fledermäuse, etc. einen Platz behalten sollen, kommt um einige Reglementierungen nicht herum.

Es ist übrigens außerordentlich schwer, die Nistplätze der Mauersegler ausfindig zu machen. Anders als z. B. die Schwalben bauen sie keine auffälligen Nester und die schmalen Schlitze hinter denen sie brüten, sind nur aus nächster Nähe erkennbar. Vor allem in den Abendstunden und mit noch mehr Glück auch am Tag, kann man Altvögel, die einfliegen, beobachten. Allerdings geht das rasend schnell, es ist nicht zu glauben, wie rasant und sicher die Vögel mit ihren zusammen rund 40 cm breiten Flügeln in solch eine Aussparung hinein kommen. Da zumeist nur in längeren Abständen gefüttert wird (am Tag fängt ein Mauersegler bis zu 20 000 Fluginsekten) und der abendliche Einflug sekundenschnell abläuft, muss man schon im richtigen Moment an der richtigen Stelle sein, um herauszufinden, wo genau die Mauersegler brüten.

Ende Juli, Anfang August verschwinden die schnellen Flieger wieder ins südliche Afrika. Es ist bekannt, dass Mauersegler in der Luft schlafen, sie lassen sich von Luftströmungen treiben und schlagen im Schlaf unbewusst mit den Flügeln, wenn sie zu tief absinken. Auch die Paarung findet im Flug statt. Das heißt tatsächlich, dass die Vögel fast ihre gesamte Lebenszeit (bis zu 20 Jahre) in der Luft verbringen und nur während sie brüten öfter einmal sitzen. Die Beinchen und Zehen sind nur ganz kurz, stehen dicht am Körper und ein Laufen und Hüpfen, wie es andere Vögel tun, ist den Seglern nicht möglich. Falls sie doch einmal auf dem flachen Erdboden angekommen sind, können sie sich gerade so wieder in die Luft erheben, dafür brauchen sie aber ein wenig Platz um sich herum. Ansonsten taugen die Zehen und Krallen nur dazu, sich an Mauervorsprüngen und anderen vertikalen Strukturen festzuhalten und daran umherzuklettern.

Ich war 14 Jahre alt, als mein Vater mich an einem Ferienmorgen aus dem Bett rief und mich bat, eine gegen eine Fensterscheibe geprallte „Schwalbe“ in Obhut zu nehmen. Die vermeintliche Schwalbe lag am Boden und konnte nicht auffliegen. Nicht lange zuvor hatte ich in Brehms Tierleben über den Mauersegler gelesen. Ich nahm das apathische Tier in die Hand, bewunderte die stromlinienförmige Gestalt, die Sichelflügel, die kleinen Zehen, den kurzen, sich nach hinten weit verbreiternden Schnabel, das schwarze Federkleid nebst dem hellen Kehllatz. Und ich erinnerte mich daran, gelesen zu haben, dass Mauersegler nicht ohne Schwierigkeiten vom Boden auffliegen können. Daher legte ich das Tier zunächst an einem geschützten und stillen Ort ab und verschaffte ihm ein wenig Erholung. Ein oder zwei Stunden später ging ich wieder zu ihm, nahm ihn erneut in die Hand und hatte den Eindruck, dass der Vogel nicht stärker verletzt ist. Dann ging ich mit ihm auf die offene Rasenfläche, wo in nächster Nähe keine Hindernisse standen und warf ihn in die Luft. Der Mauersegler versuchte aufzufliegen, gewann aber nicht genug Höhe und landete im Rhabarberstock. Ich holte ihn heraus und versuchte den Wurf noch einmal, nun sicherlich kräftiger. Da schlug der kurzzeitige Hausgenosse schnell mit den Flügeln, kam in Fahrt und in die Höhe und war nach wenigen Augenblicken aus meinem Sichtfeld verschwunden. Meine damals noch kleine Schwester stand daneben und machte große Augen, als sie die Flugübungen miterleben konnte. Ob sie sich an diese Geschichte noch erinnern kann? Ich erinnere mich immer wieder daran und hoffe darauf, mich noch sehr oft am reißenden Flug und den schrillen Rufen der Vögel erfreuen zu können.

Juni 2019

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